Die besondere Kraft der Musik

Mario Leisle sprach mit Prof. Eckart Altenmüller über die Frage, wie Musik künftig die Neurorehabilitation verändern kann.

Eckart Altenmüller hat etwas geschafft, das wenigen Menschen gelingt. Er hat seine zwei Leidenschaften in einem Beruf vereint. Altenmüller studierte Medizin und Musik, wurde Neurologe und Querflötist.

 

Prof. Eckart Altenmüller

Im Interview:
Prof. Eckart Altenmüller
Direktor des Instituts für Musikphysiologie und Musikermedizin in Hannover

  • Herr Prof. Altenmüller, sind Musiker die schlaueren Menschen?

Sie sind wahrscheinlich die glücklicheren Menschen, weil sie einen tollen Beruf haben. Ob sie schlauer sind, lässt sich schwer sagen.

  • Aber es heißt doch, Musik hilft zu lernen...

Ja, so ist es. Zum Beispiel können Kinder dadurch bessere Sprachfertigkeiten erhalten. Kinder, die musizieren, können sich besser konzentrieren, können besser Entscheidungen treffen und die Aufmerksamkeit steuern.

  • Welche Möglichkeiten kann Musik in der Neurorehabilitation bieten – über die klassische Musiktherapie hinaus?

Wir haben schon vor rund 20 Jahren damit begonnen, Schlaganfall-Patienten das Klavierspielen zu vermitteln, um die Feinmotorik der Finger zu verbessern. Die Idee dahinter war, dass sich durch das Hören der Musik und die Motivation, die dadurch entsteht, die neuronalen Netzwerke im Gehirn schneller erholen. Wir haben festgestellt, dass Menschen, die Klavier spielen lernten, in der Feinmotorik deutlich besser waren als andere, die normale Physiotherapie bekamen.

  • Im nächsten Schritt haben Sie die Armrehabilitation verklanglicht...

Richtig, wir nennen es Sonifikationstraining. Wir haben den Unter- und den Oberarm mit Sensoren verbunden und mit dem Computer so angesteuert, dass die Patienten Töne mit ihren Armbewegungen erzeugen können. Dadurch sollen sie stärker motiviert werden und lernen, ihre Armbewegungen besser zu kontrollieren. Auch hier konnten wir den Erfolg wissenschaftlich belegen.

  • Wo genau liegt das Geheimnis dieser Wirkung?

Ein Hauptfaktor ist die motivationale Kraft der Musik. Nach einem Schlaganfall befinden sich viele Patienten in der größten Krise ihres Lebens. In dieser Situation bieten wir etwas, das nicht defizitorientiert ist wie etwa: Jetzt müssen wir mal wieder üben zu schreiben! Nein, wir kommen mit einer Idee: Wollt ihr etwas Neues lernen? Wollt ihr Klavier spielen lernen oder aus eurem Arm ein einfaches Musikinstrument machen? Das ist extrem motivierend für die Patienten.

  • Es gibt aber auch biologische Faktoren.

Ja, Musik wirkt vielfältig. Durch diese Motivation wird zum Beispiel die Durchblutung des Gehirns vor allem in der Scheitelregion verbessert und gleichzeitig der Stress reduziert. Patienten haben weniger Angst und weniger Depressivität.

  • All das ist wissenschaftlich belegt?

Ja, da haben wir eine gute Datenlage. Wir waren eine Art Trendsetter, aber die Effekte wurden inzwischen von anderen Forschergruppen bestätigt. Einer meiner Kollegen in Finnland hat etwas ganz Einfaches gemacht, er hat Schlaganfall-Patienten nur Musik vorgespielt, und zwar ihre Lieblingsmusik. Und er hat dabei rausgefunden, wenn die Patienten direkt nach dem Schlaganfall, also fünf Tage nach Krankenhauseinlieferung, eine Stunde täglich ihre Lieblingsmusik hören, haben sie eine schnellere Rehabilitation ihrer Sprachfähigkeit, ihres Gedächtnisses, ihrer Aufmerksamkeit. Auch da sieht man die besondere, motivierende Kraft der Musik.

  • Nach einem Schlaganfall können manche Menschen nicht mehr sprechen, aber singen. Wie geht das?

Ja, das hat schon der Entdecker der Aphasie, Paul Broca, festgestellt. Es liegt daran, dass wir alle im Prinzip mit zwei Sprachzentren geboren werden, doch ab dem sechsten Lebensjahr wird die rechte Hirnhälfte zunehmend inaktiviert für Sprachfunktionen, bleibt aber erhalten für Musikfunktionen. Man kann durch Singen dieses alte Sprachzentrum wieder aktivieren, wenn das linkshirnige geschädigt ist. Das ist sehr mühsam, Patienten lernen zum Teil, einzelne Sätze zu singen. Aber sie können sich dadurch im Alltag wieder deutlich besser verständigen.

  • Manche Menschen hören Musik, wenn sie sich eigentlich auf etwas anderes konzentrieren sollten. Hilft das?

Ein sehr guter Punkt, das ist der sogenannte Mozarteffekt. Wenn wir leise Musik hören, die uns gefällt, dann wird die rechte Hirnhälfte ein bisschen besser durchblutet, und das Lernen fällt uns etwas leichter. Das gilt für Aufgaben, die nicht sprachbetont sind, also nicht Vokabeln lernen, aber zum Beispiel etwas Räumlich-Konstruktives wie Geometrie oder Erdkunde.

  • Wenn Musik beim Lernen hilft, kann sie auch das Gedächtnis verbessern?

Auch das. In einer Studie wurden Medizinstudenten, die Fachbegriffe gelernt haben, indem sie sie gesungen haben, verglichen mit Studenten, die ganz herkömmlich gelernt haben. Die singende Gruppe hatte die anatomischen Fachbegriffe viel schneller im Gedächtnis und hat sie auch länger behalten. Die übertriebene Sprachmelodie, wenn man Begriffe singt, führt dazu. Liedtexte werden tiefer im emotionalen Gedächtnis eingespeichert.

  • Mit klassischer Musiktherapie hat all das nicht mehr viel zu tun...

So ist es. Musiktherapeuten sind hoch qualifiziert und machen gute Arbeit. Und es ist immer wichtig, wie Ärzte oder Therapeuten mit dem Patienten umgehen, das sollten wir auf keinen Fall runterspielen. Aber in der klassischen Musiktherapie ist die Beziehung oft das Dominierende, bei uns ist es der Stimulus, die Musik. Aber natürlich spielt auch hier die Begegnung von Patient und Therapeut eine wichtige Rolle.

  • Wie schaffen wir es, dieses Wissen besser für Patienten zu nutzen?

Dazu müssen wir in Rehakliniken mehr personelle und materielle Ressourcen schaffen, um die Therapeuten zu qualifizieren. Was Angehörige jetzt schon tun können: Sie können den Patienten täglich eine Stunde ihre Lieblingsmusik vorspielen. Dafür brauche ich keine Therapeuten, es hat eine nachgewiesene Wirkung und kostet kein Geld.

 

Herr Prof. Altenmüller, vielen Dank für dieses Gespräch.