Neglect - Wenn die Hälfte des Lebens fehlt

Einige Schlaganfall-Betroffene haben eine Aufmerksamkeitsstörung, durch die sie nur noch einen Teil ihrer Umgebung wahrnehmen. Mit viel Übung können sie lernen, den Alltag wieder besser zu bewältigen.

Eine andere Wahrnehmung

Ein Experiment aus Mailand macht deutlich, was es bedeutet, einen Neglect zu haben: „Jeder Mailänder kennt den Dom und den Marktplatz. Deswegen wurden Mailänder Neglect- Patienten gebeten, sich vorzustellen, vor dem Dom zu stehen und den Marktplatz zu beschreiben“, erklärt Boris Suchan, Professor für Neuropsychologie an der Ruhr-Universität Bochum. Das Ergebnis war wenig überraschend: Sie alle beschrieben nur eine Hälfte des Marktplatzes. Die andere Seite konnten sie erst beschreiben, als sie imaginär die Perspektive wechselten und nun mit dem Rücken zum Dom standen. Die eine Hälfte existiert je nach Standpunkt für die Betroffenen nicht. In der Regel fehlt die Wahrnehmung für die linke Seite, selten für die rechte.

Verschiedene Formen des Neglects

Das kann passieren, wenn der rechte Hinterhauptlappen des Gehirns beschädigt wird – etwa durch einen Schlaganfall. Manchmal bildet sich der Neglect schnell wieder zurück, manchmal bleibt er für immer. „Es gibt verschiedene Formen des Neglects. Einige nehmen von der einen Seite keine Geräusche mehr wahr, andere sehen nichts mehr oder bemerken ihre Körperhälfte nicht mehr – oder alles zusammen“, erklärt Suchan. „Die Betroffenen haben keine Vorstellung mehr davon, dass es die linke Seite überhaupt gibt“, sagt der Neuropsychologe.

Boris Suchan

Tipps für Angehörige

Für Außenstehende ist das meist schwer nachzuvollziehen. Die Betroffenen stoßen Dinge um oder beschweren sich, dass sie nicht genug zu essen bekommen, weil sie nur den halben Teller wahrnehmen. „Deswegen ist es unglaublich wichtig, dass die Betroffenen sich immer wieder selbst daran erinnern, dass es noch die andere Seite gibt“, sagt der Experte. Um die Aufmerksamkeit zu schulen, sollte die vernachlässigte Seite möglichst oft mit einbezogen werden – sowohl in der Therapie als auch im Alltag. „Für Angehörige bedeutet das: Setzen Sie sich auf die vernachlässigte Seite und sprechen Sie den Betroffenen von dort aus an. Reichen Sie die Nahrung von der Seite. Gestalten Sie die Zimmer so um, dass zum Beispiel der Nachttisch an der nicht wahrgenommenen Seite steht“, rät Suchan.

Abstimmung mit Behandlern wichtig

Vor allem bei einem visuellen Neglect können computergestützte Übungen helfen. Dabei werden zum Beispiel bestimmte Gegenstände auf dem Bildschirm gesucht oder Texte abgeschrieben. In manchen Fällen werden auch spezielle Brillen getragen, bei denen die nicht betroffene Seite verdunkelt wird. So sind die Träger gezwungen, nach Reizen in der anderen Hälfte zu suchen. Suchan: „Wichtig ist, dass alle Maßnahmen mit allen behandelnden Ärzten, Therapeuten, Psychologen und natürlich Angehörigen abgestimmt sind.“

Speziell für Kinder

Kindgerecht wird das Krankheitsbild Gedächtnisstörungen oder Gesichtsfeldausfall als Film gezeigt sowie weitere Folgen eines Schlaganfalls erklärt oder können als Comic heruntergeladen werden.

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