Im Interview
Prof. Dr. Heiner K. Berthold
Evangelisches Klinikum Bethel (EvKB)
Herr Prof. Berthold, welche Ratschläge geben Sie Menschen, sich im Alter gesund zu halten?
Die wichtigste Empfehlung lautet: In Bewegung bleiben! Die Hauptursache für dauerhafte Pflegebedürftigkeit in Deutschland ist – neben den Demenzerkrankungen – die Immobilität.
Ist Mobilisation auch das wichtigste Ziel der geriatrischen Rehabilitation?
Ja, meistens. Wir versuchen nach einem akuten Ereignis wie einem Schlaganfall oder einer Schenkelhalsfraktur das frühere Selbstständigkeitsniveau wiederherzustellen. Kann ein Patient allein auf die Toilette gehen? Kann er sich anziehen? Kann er sich versorgen? Für diese Fähigkeiten benötige ich Mobilität. Bei vielen gelingt uns diese Wiederherstellung. Manchmal bleibt es leider auf einem niedrigeren Niveau stehen.
Was ist von den vielen Mittelchen zu halten, die uns jung und fit halten sollen?
Nichts. Wobei ich die Pharmakologie nicht abwerten will. Die Herz-Kreislauf-Medizin hat in den vergangenen Jahren enorm viel erreicht, um Menschen gesund zu erhalten. Aber wenn es um den Erhalt der Muskelmasse geht, haben wir pharmakologisch noch keine Lösung.
Warum ist das so wichtig?
Die Abnahme der Muskelmasse führt zu Instabilität, es kommt zu Stürzen und dadurch zur Immobilität. So geht der Teufelskreis los. Die Aufrechterhaltung der Muskelmasse gelingt immer noch am besten durch richtige Ernährung und Bewegung.
Was ist bei der Ernährung zu beachten?
Im Alter zählt vor allem die Eiweiß- und Kalorienzufuhr. Auch kurze Unterbrechungen können alte Menschen in eine Krise stürzen, zum Beispiel vor einer Darmspiegelung oder nach einer OP, darauf sind Fachkliniken häufig nicht richtig eingestellt. Man darf keine längeren Pausen erlauben bei einem Menschen, der nicht viel zuzusetzen hat.
Was ist die besondere Herausforderung, wenn Menschen mehrere Erkrankungen haben?
Die Altersmedizin hat das Privileg, Schwerpunkte zu setzen. Man muss bei multimorbiden alten Menschen nicht immer alles machen, was die Medizin könnte. Man darf sagen: Für den Patienten sind jetzt diese drei Dinge das Wichtigste, den Rest machen wir erst mal nicht. Entscheidend ist die Unabhängigkeit von fremder Hilfe.
Patienten bekommen oft einen Mix aus vielen Medikamenten. Sind die Wirkungen für den Arzt noch überschaubar?
Das ist ein Problem. Erkrankungen, die durch Arzneimittel hervorgerufen werden, stehen mittlerweile ganz oben auf der Liste. Auf der anderen Seite muss man sehen, dass Arzneimittel wohl den größten Anteil daran haben, dass wir immer länger leben. Es gehört viel Erfahrung und Handwerkliches dazu, um die richtige Medikation zu finden. Wir haben inzwischen recht gute Listen, was im Alter geeignet ist.
Kann man gerade im Alter sagen: Manchmal ist weniger mehr?
Grundsätzlich ja. Wir gucken immer sehr kritisch auf diese Frage. Trotzdem gehen die Patienten im Schnitt mit acht bis neun Wirkstoffen aus unserer Klinik. Das liegt einfach daran, dass wir immer mehr Krankheiten mit Arzneimitteln behandeln können. Und wir dürfen nicht dahin kommen, dass man alten Menschen Medikamente vorenthält, nur, weil sie alt sind.
Aber sind die Patienten mit der Einnahme so vieler Mittel nicht überfordert?
Die Frage der Umsetzung muss natürlich geklärt sein, das bringe ich meinen Assistenzärzten gleich zu Anfang bei. Hilft dem Patienten die Therapie oder wird er vielleicht sogar gefährdet, weil die richtige Anwendung nicht gewährleistet ist? Geriatrie ist nicht nur Medizin, da ist ganz viel gesunder Menschenverstand dabei.
Ältere Patienten erhalten nach einem Schlaganfall oft eine geriatrische Rehabilitation statt einer neurologischen. Wie stehen Sie dazu?
Es gibt große Überschneidungen. Der wichtigste Unterschied liegt vermutlich in der Ausstattung der Kliniken und in der Frequenz der Therapie. Wohnortnähe ist für die geriatrische Reha wichtig. Man muss auch schauen, was schaffen die Patienten überhaupt. Ich glaube, wir müssen vor allem dahin kommen, Therapie auch an den Wochenenden anzubieten, das gilt für die Neurologie und die Geriatrie gleichermaßen.
Vielen Dank für das Gespräch.