Das Zusammenspiel von Wahrnehmung (Sensorik) und Bewegung (Motorik) wird als Sensomotorik bezeichnet. Sensomotorische Störungen können auch nach einem Schlaganfall auftreten. Sie äußern sich zum Beispiel durch eine Lähmung, Schwierigkeiten in der Grobmotorik, Probleme mit der Feinmotorik oder eine Koordinationsschwäche. Die neue Leitlinie gibt Fachpersonal aus Medizin und Therapie Handlungsempfehlungen für die Rehabilitation dieser Störungen. Für die Schlaganfall-Hilfe hat Reha-Expertin Anna Engel an der Leitlinie mitgearbeitet.
Prof. Dr. Thomas Platz (DGNR) ist gemeinsam mit Prof. Dr. Gereon Nelles (DGN) einer der beiden Koordinatoren der neuen Leitlinie. Im Interview fasst er die wichtigsten Empfehlungen für die Rehabilitation sensomotorischer Störungen bei Schlaganfall-Patientinnen und -Patienten zusammen.
Herr Prof. Platz, welche Ziele hat die Rehabilitation sensomotorischer Störungen nach einem Schlaganfall?
Das lässt sich so pauschal gar nicht sagen. Die Ziele sind von Betroffenem zu Betroffenem unterschiedlich. Es ist wichtig, dass das medizinische Fachpersonal die Betroffenen gut informiert, welche sensomotorischen Einschränkungen der Schlaganfall bei ihnen verursacht hat. Dann gilt es gemeinsam mit den Betroffenen zu überlegen, welche körperlichen Funktionen sie wiedererlangen möchten und was davon aus medizinischer Sicht erreichbar ist. Auf Basis dieser Wünsche können dann realistische Ziele und eine bedarfsgerechte Therapie festgelegt werden.
Es können also nicht alle Schlaganfall-Betroffenen die gleichen Verbesserungen erreichen?
Nein, leider nicht. Welche Ziele erreicht werden können, ist eine sehr komplexe Frage und hängt von verschiedenen Faktoren ab. Eine wichtige Rolle spielen natürlich die entstandenen Schäden am Gehirn. Dabei geht es einmal um die Größe der Schäden, vor allem aber um die individuelle Kombination der beschädigten Hirnbereiche. Bei manchen Kombinationen haben es die Betroffenen deutlich schwerer, Fortschritte in der Rehabilitation zu machen. Die gute Nachricht ist aber, dass das Gehirn in den allermeisten Fällen lernfähig bleibt und damit Verbesserungen möglich sind.
Was trägt noch zum Erfolg der Rehabilitation sensomotorischer Störungen bei?
Die Betroffenen brauchen Motivation und sollten gut informiert werden, wie der Therapie-Prozess abläuft. Denn Rehabilitation kann für die Betroffenen sehr mühsam sein. Dann hilft es zu wissen, warum man gerade die jeweilige Übung macht. Außerdem ist ein unterstützendes soziales Umfeld hilfreich.
Immer wieder ist in der Leitlinie von der sogenannten Neuroplastizität die Rede. Was ist das?
Unser Gehirn besteht aus Nervenzellen, die miteinander verbunden sind. Alle Nervenzellen, die für eine bestimmte Funktion zuständig sind, kommunizieren auf diese Weise miteinander. Bei einer Schädigung des Gehirns, zum Beispiel durch einen Schlaganfall, werden diese Verbindungen in einem bestimmten Bereich jedoch zerstört. Die dort verortete Funktion geht verloren. Es können sich aber neue Netzwerke bilden, die diese Aufgaben übernehmen. Das nennt man Neuroplastizität. Diese Fähigkeit hat das Gehirn immer, nach einer Hirnschädigung ist sie aber für ungefähr drei Monate erhöht.
Gibt es denn eine Möglichkeit, die Neuroplastizität künstlich zu erhöhen?
Es gibt Ansätze, die Neuroplastizität mit dem Verfahren der nicht-invasiven Hirnstimulation oder bestimmten Medikamenten zu fördern. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse sind dazu aber noch nicht ausreichend. Aktuell darf man sich da noch nicht zu viel erhoffen. Am wichtigsten ist immer noch eine speziell auf die Betroffenen abgestimmte und ausreichend intensive Therapie. Das ist sozusagen der goldene Weg.
Welche Auswirkungen hat die Neuroplastizität auf die Rehabilitation von Schlaganfall-Betroffenen?
Je nach Zustand der Patientin bzw. des Patienten sollte bereits ein paar Tage nach dem Schlaganfall langsam die sensomotorische Rehabilitation beginnen. In den ersten Monaten sollte dann möglichst intensiv an der Wiederherstellung verlorengegangener Funktionen gearbeitet werden. Das findet häufig stationär in einer Reha-Klinik statt, um die nötige Intensität zu erreichen. Je nach erworbener Einschränkung sind daran verschiedene therapeutische Fachrichtungen, wie Physio- und Ergotherapie, Logopädie und Neuropsychologie, beteiligt. Wichtig ist dabei die Abstimmung des therapeutischen Fachpersonals untereinander, damit alle am gleichen Ziel arbeiten.
Und was kommt nach der stationären Rehabilitation?
Es macht keinen Sinn zu denken, die Rehabilitation sensomotorischer Störungen wäre nach dem Aufenthalt in der Reha-Klinik abgeschlossen. Stattdessen empfiehlt die Leitlinie eine kontinuierliche Sicht auf die Rehabilitation. Denn viele Betroffene sind längerfristig auf Therapien angewiesen. Das kann zum Beispiel in Form von Intensivphasen oder ambulanten Therapiestunden sein. Im Idealfall schaffen es auch die ambulanten Therapeutinnen und Therapeuten, ihre Behandlung aufeinander abzustimmen.
Die Leitlinie empfiehlt auch, die Angehörigen von Schlaganfall-Betroffenen in die Rehabilitation einzubeziehen. Warum ist das so wichtig?
Nahe Angehörige sind Teil des „Teams“ der Betroffenen, sie leisten im Alltag wichtige Hilfe. Doch um helfen zu können, brauchen auch sie ein gutes Wissen über die Erkrankung und die erworbenen Behinderungen. Denn auch ganz Alltägliches, wie beispielsweise Unterstützung beim Einstieg ins Auto, braucht ein gewisses Training. Und gleichzeitig hören vier Ohren immer mehr als zwei. Gemeinsam fällt es einfach viel leichter, sich an alle Auskünfte von Ärzten und Therapeutinnen zu erinnern. Die Angehörigen werden damit gewissermaßen zu einer Informationsbrücke.
Ganz neu in der Leitlinie ist unter anderem ein Kapitel zum Thema Hilfsmittel: Welche Rolle nehmen sie in der Rehabilitation ein?
Die Aufgabe von Hilfsmitteln ist es, die Betroffenen im Alltag zu unterstützen. Sie sollen dort Sicherheit und Selbstständigkeit gewährleisten, wo Therapien dieses Ziel nicht erreichen können. Wichtig ist die enge Zusammenarbeit von Sanitätshäusern, Betroffenen sowie dem ärztlichen und therapeutischen Personal bei der Hilfsmittelversorgung. So steigt die Wahrscheinlichkeit, dass das neue Hilfsmittel am Ende auch wirklich eine Unterstützung ist und nicht ungenutzt bleibt.
Herr Prof. Platz, herzlichen Dank für dieses Gespräch.
Neben der DGN und der DGNR waren diese Fachgesellschaften und Organisationen an der Erstellung der Leitlinie beteiligt:
- Deutsche Gesellschaft für Neurotraumatologie und klinische Neurorehabilitation e. V. (DGNKN)
- Deutscher Verband Ergotherapie e. V. (DVE)
- Deutscher Verband für Gesundheitssport und Sporttherapie (DVGS)
- Deutscher Verband für Physiotherapie (ZVK)
- Österreichische Gesellschaft für Neurologie (ÖGN)
- Österreichische Gesellschaft für Neurorehabilitation (OeGNR)
- Schweizerische Gesellschaft für Neurorehabilitation (SGNR)
- Schweizerische Neurologische Gesellschaft (SNG)
- Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe (SDSH)
- Verstehen & VermeidenBasisinformationen zum Thema Schlaganfall
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