Im Interview
Prof. Dr. Markus Krämer
Neurologe vom Essener Alfried Krupp Krankenhaus
Herr Prof. Dr. Krämer, Schlaganfall bei jungen Menschen – das klingt surreal, oder?
So surreal ist es leider nicht. Früher hieß es oft „zu jung für einen Schlaganfall“. Und auch heute noch ist das in vielen Köpfen die landläufige Meinung, so dass das Wissen um den jungen Schlaganfall in Deutschland traditionell nicht weit verbreitet ist. Dabei ist der Schlaganfall bei jungen Menschen gar nicht so surreal, sondern traurige Realität.
Wie viele junge Menschen sind in Deutschland von einem Schlaganfall betroffen?
Man geht davon aus, dass etwa 15 Prozent aller Schlaganfälle bei Menschen unter 55 Jahren auftreten. In absoluten Zahlen sind das bis zu 30.000 Schlaganfälle bei jüngeren Menschen.
Wenn von „jungen Menschen“ die Rede ist, welche Altersgruppen sind damit gemeint?
Meist spricht man von einem jungen Schlaganfall unter 45 Jahren, obwohl viele Studien auch Patientinnen und Patienten unter 55 Jahren mitberücksichtigen. Ich persönlich bin ein großer Verfechter der Grenze von 45 Jahren.
Gibt es bei den jüngeren Betroffenen Unterschiede zwischen Männern und Frauen?
In der Altersgruppe der jüngeren Schlaganfall-Betroffenen unter 55 Jahren nimmt der Anteil der Männer zwischen 45 und 55 Jahren stetig zu. Dies ist darauf zurückzuführen, dass Männer in diesem Alter häufiger als Frauen an den klassischen Risikofaktoren leiden und vermehrt Arteriosklerose und Herzrhythmusstörungen entwickeln.
Bei den jüngeren Betroffenen unter 45 Jahren sind dagegen aus verschiedenen Gründen mehr Frauen betroffen, besonders deutlich bei den unter 35-Jährigen. Das kann zum Beispiel daran liegen, dass hormonelle Faktoren eine Rolle spielen. So haben Raucherinnen, die die Pille nehmen, ein erhöhtes Schlaganfall-Risiko. Ihr Risiko steigt weiter, wenn sie zusätzlich unter Migräne leiden, die bei Frauen ebenfalls häufiger auftritt als bei Männern. Auch Schwangerschaften erhöhen das Schlaganfall-Risiko: Um die Geburt herum und in der Zeit kurz danach, ist es besonders erhöht.
Haben jüngere Menschen andere Ursachen für einen Schlaganfall als ältere?
Ja, es gibt große Unterschiede bei den Ursachen von Schlaganfällen bei jungen Patientinnen und Patienten im Vergleich zu älteren Betroffenen. Bei älteren Menschen werden Schlaganfälle zumeist durch Gerinnsel verursacht, die bei Herzrhythmusstörungen - dem sogenannten Vorhofflimmern – aus dem Herzen hochsausen, oder durch abgelöste Verkalkungen bei der Arteriosklerose. Im Alter zwischen 45 und 55 Jahren haben die klassischen Risikofaktoren wie Rauchen, Bluthochdruck, Übergewicht, Diabetes und Bewegungsmangel bereits ein größeres Gewicht als bei den unter 45-jährigen. Bei ihnen spielen sie in den meisten Fällen kaum eine Rolle.
Woran liegt das?
Dies liegt daran, dass sehr junge Menschen unter 45 Jahren bis auf sehr wenige Ausnahmen noch keine Arteriosklerose entwickelt haben und auch das Herz noch nicht so geschädigt ist, dass sich Gerinnsel bilden könnten. In jüngeren Jahren unter 45 sind dagegen Einrisse in der Gefäßwand mit nachfolgender Gerinnselbildung, so genannte Dissektionen, eine häufige Ursache für den Schlaganfall. Diese Gerinnsel gelangen über den Blutstrom ins Gehirn, wo sie eine Arterie verschließen können und so zu einem Schlaganfall führen. Eine andere Ursache ist das Durchrutschen von Gerinnseln ins Gehirn durch ein Loch im Herzen, das so genannte PFO (Persistierendes Foramen ovale). Darüber hinaus gibt es viele seltene Ursachen des jungen Schlaganfalls, nach denen gesucht werden sollte.
Lassen sich die Ursachen immer finden?
Leider nicht. Solche Schlaganfälle werden als kryptogener Schlaganfall bezeichnet. So sollte man Schlaganfälle nur nennen, wenn wirklich umfassend nach Schlaganfall-Ursachen gesucht wurde. Denn nur wenn man die Ursache des Schlaganfalls kennt, kann man diese in Zukunft gezielt ausschalten und damit einen erneuten Schlaganfall verhindern.
Und wenn keine Ursache gefunden wird? Welche Empfehlungen können Sie geben?
Mein Rat ist, sich einmal im Rahmen des akuten Schlaganfalls in einer neurologischen Klinik breit untersuchen zu lassen. Und wenn keine Ursache gefunden wird, auch zeitversetzt, zum Beispiel nach drei bis sechs Monaten, sich noch einmal nachuntersuchen zu lassen.
Ist die Rezidivrate, also die Gefahr, einen wiederholten Schlaganfall zu erleiden, bei jüngeren Betroffenen geringer?
Es hängt wieder sehr vom Alter und damit von den Ursachen ab. Häufig ist die Rückfallrate bei den jungen Betroffenen unter 45 Jahren deutlich geringer als bei den 45- bis 55-Jährigen und noch älteren. Das liegt daran, dass unter 45 Jahren die Wahrscheinlichkeit geringer ist, dass sich das ursächliche Ereignis wiederholt. So ist der Einriss der Gefäßwand, die Dissektion, an sich so selten und unwahrscheinlich, dass sich dieses Ereignis kaum wiederholt. Ähnliches gilt für das Durchrutschen von Gerinnseln durch ein Loch im Herzen. Auch das Rauchen und die Einnahme der Pille können in jungen Jahren aufgegeben werden, so dass man sein Risiko gut reduzieren kann. Im Alter, wenn Herz und Gefäße bereits geschädigt sind, ist dies schwieriger.
Erholen sich junge Schlaganfall-Betroffene besser und schneller?
Tatsächlich erholen sich jüngere Schlaganfall-Betroffene körperlich oft besser von einem Schlaganfall. Oft können bei jüngeren Patientinnen und Patienten durch meist längere Rehabilitations-Behandlungen sehr gute Erfolge erzielt werden. Dennoch kehren nach zwei bis vier Jahren nur gut Zweidrittel ins Berufsleben zurück. Neben der körperlichen Behinderung wirken sich auch andere Faktoren auf den weiteren Verlauf aus. Hier ist insbesondere die Psyche zu nennen. Depressionen beispielsweise spielen eine große Rolle für die weitere Lebensqualität nach einem frischen Schlaganfall. Daher ist es wichtig, die sogenannte Post-Stroke-Depression, also die Depression nach Schlaganfall, frühzeitig zu erkennen und zu behandeln.
Gibt es Präventionsmöglichkeiten für junge Menschen?
Oft muss ich meinen besorgten jungen Schlaganfall-Betroffenen die Schuldgefühle nehmen, weil sich diese schicksalhafte Erkrankung im sehr jungen Alter oft nicht verhindern lässt. Denn der klassische juvenile Schlaganfall ohne Risikofaktoren trifft die Menschen tatsächlich wie ein Schlag. Und auch wenn ich betont habe, dass im ganz jungen Alter die klassischen Risikofaktoren keine so große Rolle spielen, ist eine gesunde Lebensweise die beste Prävention. Hier ist insbesondere das Nichtrauchen zu nennen. Auch regelmäßige Bewegung und eine gesunde mediterrane Ernährung sind in jungen Jahren wichtig und richtig. Es heißt ja: „Sitzen ist das neue Rauchen“ und mit viel Bewegung können wir sicherlich spätere Schlaganfälle im Alter minimieren.
Herr Prof. Dr. Krämer, herzlichen Dank für dieses Gespräch.