Welche Therapiemaßnahmen die größten Erfolge versprechen, hat jetzt ein Gremium von Experten der Deutschen Gesellschaft für Neurorehabilitation in einer Leitlinie festgehalten. Mario Leisle sprach mit Prof. Dr. Thomas Platz (Bild), federführender Autor der Leitlinie.
Im Interview
Prof. Dr. Thomas Platz
leitet die Arbeitsgruppe der Deutschen Gesellschaft für Neurorehabilitation
Herr Prof. Platz, wie aufwendig war es, die Leitlinie zu überarbeiten?
Es hat unterm Strich zehn Jahre gedauert. Daran erkennt man, dass es selbst für ein begrenztes Thema wie die Rehabilitation des Arms nach Schlaganfall mittlerweile eine fast erschlagende Anzahl klinischer Studien gibt.
Das ist doch erfreulich...
Auf jeden Fall! Im Vergleich zur Akutneurologie sind die meisten Studien in der neurologischen Rehabilitation allerdings deutlich kleiner. Das bedeutet, dass sie in ihrer Aussage oft nicht so belastbar sind.
Was sind die Kernaussagen der neuen Leitlinie?
Ein Punkt kommt deutlich heraus: Wenn in einer Behandlungseinheit der Arm irgendwie mitbedacht wird, ist das wohl kein Konzept, das die Armerholung nachhaltig fördert. Wir brauchen eine klare Fokussierung auf den Arm! Wir müssen uns intensiv um die aktiven Funktionen kümmern.
Ist das bisher nicht passiert?
Nicht immer in dieser Konsequenz. Ich sage dazu: Wir müssen die Sprache des Gehirns sprechen! Das bedeutet, dass wir die Netzwerke im Gehirn, die bestimmte Leistungen erbringen, mit hoher Konzentration und Intensität sehr stark fördern und fordern sollten, immer an der individuellen Leistungsgrenze. Tuen wir das nicht, macht das Gehirn weniger Fortschritte. Da spielt ein ganz wesentlicher Teil der Wirksamkeit.
Das spricht für das Training an modernen Armrobotern...
Absolut. Die machen viele Hundert Bewegungen. Sie fokussieren immer genau auf das spezifische motorische Problem, das wird dann hochintensiv geübt. Ein anderes Beispiel ist die repetitive transkranielle Magnetstimulation (rTMS). Auch hier sprechen wir die „Sprache des Gehirns“, wenn wir das Netzwerk, das für die Motorik des Arms zuständig ist, in seiner Erregbarkeit und damit auch in seiner Lernbereitschaft verändern. Das scheint tatsächlich zu wirken. In der ersten Zeit nach dem Schlaganfall stärker, aber auch später noch. Und es braucht gar nicht so viele Sitzungen, um einen Effekt zu erreichen.
Ist das ein Abgesang auf andere Ansätze wie die Spiegeltherapie?
Ganz im Gegenteil, die Spiegeltherapie kann sehr gut auch zusätzlich durchgeführt werden, z. B. auch im Anschluss an eine intensive Bewegungstherapie. Ein Vorteil der Spiegeltherapie ist, dass sie auch Schlaganfall-Betroffene mit schwerer Armlähmung ohne direkte fremde Hilfe durchführen können. Die Netzwerke für den gelähmten Arm werden auch bei der Spiegeltherapie aktiviert, das ist eine Art Dosissteigerung und kann einen Zusatznutzen bringen.
Sind Roboter die besseren Therapeuten?
Nein. Ideal ist das Training mit Therapeuten, weil sie auf den Menschen umfassend eingehen. Sie können sehr individuell Orientierung und Feedback geben, das spürt der Patient. Und Patienten können mit Therapeuten alle Freiheitsgrade im Arm, in der Hand und den Fingern selektiv üben. Das kann die Maschine noch nicht so gut – alle Bewegungsmöglichkeiten in Arm und Hand trainieren. Also wäre es das Beste, wenn man genügend Therapeuten hätte. Haben wir aber nicht, deshalb sind Roboter ein sehr großer Fortschritt.
Es gibt immer mehr unterschiedliche Geräte...
Und das ist gut so, denn die Möglichkeiten jedes einzelnen Robots sind begrenzt. Sie brauchen im Prinzip mehrere Geräte, um Arm und Hand insgesamt behandeln zu können. Und man sollte sich nicht nur auf die Technik verlassen, ich würde die Robot-Therapie auch immer in ihren Grenzen sehen.
Sie selbst haben das Arm-Basis-Training, ein schädigungsorientiertes Training, mitentwickelt. Andere Konzepte orientieren sich eher an der zu lösenden Aufgabe, also an Alltagsaktivitäten. Was ist besser?
Das lässt sich pauschal nicht sagen. Für das aufgabenorientierte Training sind Effekte nachweisbar. Wenn ich aber einen schwer betroffenen Arm habe, erschließt es sich dem Patienten nicht unbedingt. Das Gehirn hat noch gar nicht die Kontrolle, mit Objekten zu hantieren. Man könnte denken, man braucht das unbedingt, weil es den Alltag widerspiegelt, aber vielleicht ist es noch deutlich zu früh, jenseits der aktuellen Leistungs- und Lerngrenze. Das Arm-Basis-Training hilft bei schweren Lähmungen, die Bewegungsfähigkeit im Arm, in der Hand und den Fingern systematisch wiederherzustellen, also erst einmal die Voraussetzungen für das Hantieren von Gegenständen zu schaffen. Die Wahl der geeigneten Therapie ist immer eine individuelle Entscheidung.
„Viel hilft viel“ scheint ein Erfolgsrezept der Armrehabilitation zu sein. Da könnte zusätzliches Eigentraining viel bewirken. Was sagt die Leitlinie dazu?
Ein strukturiertes, repetitives Eigentraining sollte man durchaus empfehlen. Eine große Frage ist: Wie kann man ausdauernde Motivation über eine längere Zeit erhalten, auch wenn die Fortschritte von Tag zu Tag nicht so groß sind? Auch Eigentraining müsste erreichen, dass der Patient engagiert an seiner Leistungsgrenze für die motorische Kontrolle trainiert, ohne ihn zu über- oder unterfordern. Das ist ein extrem hoher Anspruch. Wenn der Therapeut das individuell strukturiert, gut anleitet und immer wieder überprüft, dann besteht eine gute Chance, dass es Patienten relevant bei ihrer Erholung unterstützt.
Die Leitlinie umfasst 283 Seiten. Ich frage mich: Wie kommt all das Wissen an die Basis, zu meinem Therapeuten um die Ecke?
Gute Frage! So ist sie sicherlich schwer verdaulich, da gebe ich Ihnen recht. Ich hoffe, es gelingt uns bald, eine Kurzversion daraus zu machen, für Patienten, aber auch für Therapeuten. Außerdem gibt es Fortbildungsveranstaltungen wie unsere Summer School in Greifswald, bei der die Inhalte der Leitlinie kurz und knapp vorgestellt werden. Das E-Learning-Angebot der Summer School ist jetzt kostenlos und multiprofessionell verfügbar. Das wäre auch eine Gelegenheit für Therapeuten, sich zu informieren.
Wagen Sie einen Ausblick auf 2030? Was werden wir in zehn Jahren mehr wissen oder besser machen?
Also ich glaube, dass wir auch vor zehn Jahren schon ein Bild hatten, das qualitativ dem heutigen sehr ähnlich war. Jetzt haben wir deutlich mehr Informationen, aber in erster Linie haben sie dazu beigetragen, das Bild von vor zehn Jahren zu konsolidieren und Einschätzungen sicherer zu machen. Potenziale für die Zukunft sehe ich vor allem in der Frage, wie wir das Gehirn noch stärker durch sehr gezieltes Trainieren an der Leistungsgrenze fördern können. Da sehe ich Chancen, die Ansätze, die wir schon haben, noch effektiver einzusetzen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Therapeuten und interessierte Patienten können sich kostenlos über die neue Leitlinie mit dem E-Learning-Programm der Summer School der Universität Greifswald informieren.