Experten-Interview: "Mit Änderungen ist zu rechnen"

Es kam Bewegung in die Diskussion um den Bluthochdruck. Eine neue Studie legt nahe, den Druck deutlich stärker als bisher zu senken. Wird sich die Behandlung verändern? Und welche Empfehlungen geben Ärzte ihren Patienten darüber hinaus?

Privatdozentin Dr. Anna Mitchell

Im Interview
Dr. Anna Mitchell
Privatdozentin der Universitätsklinik Essen und stellvertretende Vorstandsvorsitzende der deutschen Hochdruckliga.

 

Mario Leisle sprach mit Privatdozentin Dr. Anna Mitchell von der Uniklinik Essen. Sie ist stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Deutschen Hochdruckliga.

  • Frau Dr. Mitchell, verschreiben Sie Ihren Patienten sofort ein Medikament, wenn Sie einen Bluthochdruck feststellen?

Die Entscheidung ist nicht immer leicht. Wenn jemand keine weiteren Risikofaktoren wie Diabetes oder Fettstoffwechselstörungen hat, ist die Entscheidung von der Höhe der Blutdruckwerte abhängig. Ist der Blutdruck ohne weitere Risikofaktoren nicht höher als 160/100, kann man drei Monate abwarten. Seinen Lebensstil kann man schließlich nicht in fünf Minuten umstellen.

  • Reichen dafür drei Monate?

Es ist ein Anfang. Wenn ich danach keine Blutdrucksenkung feststelle, würde ich mit einem niedrig dosierten Medikament oder einer Kombinationstherapie einsteigen, aber die Patienten trotzdem weiter an ihrem Lebensstil arbeiten lassen. Wenn sie damit erfolgreich sind, kann man ein Medikament auch wieder absetzen.

  • Aber ist die Motivation noch vorhanden, wenn der Patient bereits ein Medikament bekommt? Dann ist der Leidensdruck doch noch geringer.

Das ist sicher ein Problem, dafür brauchen Patienten eine Begleitung. Ärztinnen und Ärzte allein können das nicht leisten. Sie bringen das auf den Weg, dann sollten andere Berufsgruppen sie unterstützen.

  • Studien zufolge haben viele Patienten trotz Medikamenten einen schlecht eingestellten Blutdruck.

Ja, man muss Medikamente auch richtig einnehmen können. Die Leute haben nicht nur Hochdruck, am Ende bekommen sie vielleicht zehn Präparate. Wer schafft es denn, die alle richtig einzunehmen? Ich würde es nicht schaffen.

  • Was ist die Lösung?

Ich bräuchte ständig jemanden, der neben mir herliefe und mich daran erinnert. Da können Apps vielleicht helfen. Man muss auch darüber nachdenken, mehr Kombinationspräparate zu entwickeln. Je größer die Zahl der Medikamente, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass die Einnahme klappt.

  • Was wäre – abseits der Medikamente – Ihre erste Empfehlung an Bluthochdruck-Patienten?

Salzarm essen, das hilft fast immer.

  • Kommen wir zur Kontrolle des Blutdrucks. Wie oft sollten Patienten ihren Blutdruck messen?

Die meisten Hochdruck-Patienten tun das mittlerweile regelmäßig, fast alle haben ein Messgerät. Wenn jemand gut eingestellt ist, braucht er nicht täglich zu messen. Zu Beginn der Behandlung empfehle ich aber drei Messungen am Tag, bei sehr schlechten Werten auch fünf.

  • Empfohlen wird, sich vor der Messung fünf Minuten auszuruhen. Das bedeutet aber, dass man nie Spitzen misst. Ist das nicht ein Problem?

Ja. Was die Messung angeht, haben wir noch keine optimale Lösung. Die fünf Minuten Ruhe vor der Messung haben vor allem den Grund, einen einheitlichen Standard zu schaffen. Auf dieser Basis kann man Werte miteinander vergleichen. Wir wissen aber nicht, was wir nicht messen. Auch bei einer 24-Stunden-Messung messen wir nur in Intervallen. Es werden immer mehr Geräte auf den Markt kommen, mit denen man den Druck mehr oder weniger kontinuierlich messen kann. Das wird sehr hilfreich sein.

  • Bisher gilt, Hochdruck-Patienten auf einen systolischen, oberen Wert von unter 140 zu behandeln. Aber kürzlich ging ein Aufschrei durch die Fachwelt, als eine neue Studie erschien. Die besagt, dass für Hochrisiko-Patienten 120 viel gesünder ist. Bekommen Ihre Patienten jetzt mehr Medikamente?

So einfach ist es nicht. Die Zahlen bilden Mittelwerte ab, dahinter stehen aber Menschen mit sehr individuellen Konstellationen. Die sogenannte SPRINT-Studie wird uns wirklich weiterbringen. Sie beweist, dass es eine Subgruppe von Patienten gibt, für die ein niedrigerer Blutdruck als bisher angenommen gut ist. Aber es werden nicht pauschal alle Patienten über 75, alle Frauen oder alle chronisch Nierenkranken sein. Wir müssen auch die Gruppen identifizieren, die nicht von der Senkung auf unter 120 profitiert haben, denn die gab es in dieser Studie auch.Das heißt, Sie behandeln Ihre Patienten weiter wie bisher?Vorerst ja. Es wird noch einige Zeit dauern, bis das alles ausgewertet ist und in die Leitlinien einfließt. Aber dann ist sicherlich mit einigen Änderungen zu rechnen.

Vielen Dank für das Gespräch.