Experten-Interview: "Weniger ist mehr"

Dr. Caroline Kuhn schrieb einen umfassenden Ratgeber zum Umgang mit neuropsychologischen Funktionsstörungen. Mario Leisle sprach mit der Expertin über das, was betroffene Schlaganfall-Patienten und ihre Angehörigen unbedingt wissen sollten.

Dr. Caroline Kuhn leitet die Neuropsychologische Lehrund Forschungsambulanz an der Universität des Saarlandes.

Im Interview
Dr. Caroline Kuhn
leitet die Neuropsychologische Lehr- und Forschungsambulanz an der Universität des Saarlandes

  • Frau Dr. Kuhn, was sind die häufigsten neuropsychologischen Funktionsstörungen nach Schlaganfall?

Aufmerksamkeitsstörungen kommen am häufigsten vor, damit zusammenhängend auch Störungen von Gedächtnisleistungen. Darüber hinaus sind es Störungen der Exekutivfunktionen. Wenn ich zum Beispiel gerade plane, meinen Einkaufszettel zu schreiben, braucht nur ein Anruf zu kommen, und schon bin ich komplett weg von dem, was ich machen wollte. Das ist eine typische Planungsstörung. Des Weiteren kommt es häufig zu Veränderungen des emotionalen Erlebens und Verhaltens, zum Beispiel zu einer schnellen Gereiztheit.

  • Sie sagen, die Rehabilitation komplexer neuropsychologischer Störungen braucht 3 bis 5 Jahre. Haben Sie auch Nachrichten, die den Patienten Mut machen?

Viele unserer Patienten sind ratlos. Sie berichten, im Krankenhaus habe man ihnen gesagt: „In ein paar Wochen merken Sie gar nichts mehr davon.“ Trotzdem spüren sie diese Veränderungen. Wenn wir den Menschen erklären, dass sich so komplexe Netzwerkfunktionen quasi neu herausbilden müssen, macht das Mut. Die Menschen wissen dann, das ist nicht abnormal.

  • Krankheitseinsicht als Mutmacher also?

Ja, vor allem Krankheitsverständnis. Wenn ich mich gestern fit fühlte, meinen Alltag fast wie früher geschafft habe, es aber heute kaum aus dem Bett schaffe, sind viele erst mal verzweifelt. Wenn sie aber verstehen, dass der Tag gestern meinem Gehirn so viel Leistung abgefordert hat, dass es heute einfach diese Regeneration braucht, dann wissen sie auch: Morgen oder übermorgen kann wieder ein ganz normaler Tag werden.

  • In der motorischen Rehabilitation gilt: Ständige Wiederholung bringt den Erfolg. Gibt es eine vergleichbare „Faustregel“ auch für die neuropsychologische Rehabilitation?

Ja, genau das Gegenteil. Unser Prinzip lautet: Weniger ist mehr! Unsere Patienten erhalten als erste therapeutische Hausaufgabe zu hören: Bitte legen Sie systematisch Pausen ein – bei allem, was Sie tun! Die meisten von uns haben etwas anderes gelernt, sie beißen eher die Zähne zusammen. Aber unser Gehirn braucht in den ersten 18 bis 36 Monaten nach dem Schlaganfall extrem viele Erholungspausen.

  • Niedergelassene Neuropsychologen sind äußerst rar. Was empfehlen Sie Patienten, die keinen Termin bekommen?

In der stationären neurologischen Rehabilitation sollte eine neuropsychologische Untersuchung stattfinden. Dann habe ich zumindest schon einmal schwarz auf weiß, welche Funktionen beeinträchtigt sind. Wenn ich keine Möglichkeit habe, einen niedergelassenen Neuropsychologen zu finden, besteht die Möglichkeit, das durch Ergotherapie vorübergehend zu kompensieren. Dabei sollte man bei der Auswahl der Praxis darauf achten, dass die Therapeuten auf neurologische Erkrankungen spezialisiert sind.

  • Was geben Sie Angehörigen mit auf den Weg?

Als Angehöriger sollte ich den Patienten in seiner Körperwahrnehmung bestärken. Wenn ein Patient sagt: „Ich kann nicht mehr!“, dann sollte man ihn darin bestärken, sich zurückzuziehen, anstatt zu sagen: „Komm, mach weiter, das wird schon.“ Das ist eine Faustregel, die sich in vielerlei Hinsicht bewährt hat. Zum einen fördert das eine notwendige Verhaltensänderung, damit Patienten nicht permanent erschöpft sind. Zum anderen wird mit dieser Faustregel ganz viel emotionaler Zündstoff reduziert.

  • Stichwort Emotion: Wie können Angehörige mit Wesensveränderungen der Betroffenen umgehen?

Es gibt Regeln, die Betroffene und ihre Familien einüben können und die sehr hilfreich sind. Wir arbeiten mit sogenannten Time-out-Methoden. Das heißt, wir vereinbaren mit Einverständnis des Patienten wirksame Zeichen. In einer Familie zum Beispiel war der Mann ein großer Fußballfan. Da haben wir vereinbart, dass seine Frau ihm die Gelbe Karte zeigt, wenn sie ihm ein Zeichen geben will. Wenn sie ihm die Rote Karte zeigt, geht der Mann jetzt in sein Arbeitszimmer, bis er das Gefühl hat, er hat sich wieder beruhigt. In der Therapie selber arbeiten wir mit solchen Veränderungen in erster Linie verhaltenstherapeutisch.

  • Letzte Frage: Wenn Sie Ihren Patienten nur einen einzigen Tipp geben dürften, wie würde der lauten?

Offen kommunizieren, dass meine Belastungsgrenzen reduziert sind. Dann kann auch mein Umfeld besser damit umgehen. Das ist kein Grund, sich zu schämen.

 

Herzlichen Dank für dieses Gespräch!