Experten-Interview: Auch die Seele leidet

Halbseitige Lähmung, epileptische Anfälle – der kindliche Schlaganfall kann schwerwiegende körperliche Folgen hinterlassen. Marco Vollers, Schlaganfall-Kinderlotse, erlebt aber auch psychosoziale Beeinträchtigungen. 

Schlaganfall-Kinderlotse Marco Vollers

Im Interview
Marco Vollers
Schlaganfall-Kinderlotse (Nord/West/Ost Deutschland) am Versorgungszentrum Kindlicher Schlaganfall in Bremen

Halbseitige Lähmung, epileptische Anfälle – der kindliche Schlaganfall kann schwerwiegende körperliche Folgen hinterlassen. Je länger der Schlaganfall aber zurückliegt, desto mehr überwiegen psychosoziale Beeinträchtigungen. Das erlebt Marco Vollers (Bild) immer wieder. Seit 2012 ist der Bremer Deutschlands erster Schlaganfall-Kinderlotse, finanziert durch die Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe. Mehr als 170 Familien mit einem schlaganfallbetroffenen Kind bundesweit betreut er. Julia Hebeler sprach mit ihm über seine täglichen Erfahrungen.

  • Herr Vollers, der Schlaganfall hinterlässt nicht nur körperliche Schäden. Welche Bedeutung haben psychosoziale Probleme in Familien mit einem schlaganfallbetroffenen Kind?

Leider eine große! Der Schlaganfall macht viel mit der Seele. In meinen Augen ist diese Last mitunter sogar größer als die körperliche. Natürlich leidet das Kind aufgrund der fehlenden körperlichen Fähigkeiten, aber auch die emotionale Ebene ist stark betroffen – sei es in Form einer Behinderung durch eine Hirnverletzung oder dadurch, dass sich das Kind mit starken Gefühlen wie Wut oder Ungeduld auseinandersetzen muss. Nicht nur das Kind ist betroffen, sondern die ganze Familie.

  • Vergessen sich Eltern selbst in der Sorge um ihr Kind?

„Hauptsache, meinem Kind geht es gut!“ Das höre ich Mütter und Väter immer wieder sagen. Das Kraftreservoir macht da aber nicht mit. Deshalb versuche ich, gemeinsam mit den Eltern kleine Inseln zum Kräfte-Auffüllen zu finden. Das kann eine halbe Stunde Musikhören sein, ein Spaziergang oder mal ein Abendessen im Restaurant. Damit es dem Kind gut gehen kann, muss es den Eltern gut gehen.

  • Wie erleben Geschwister die Krankheit ihres Bruders oder ihrer Schwester?

In jungen Jahren wird mit dem betroffenen Geschwisterkind sehr natürlich umgegangen. Es wird geküsst und gestritten, ganz normal. Ein paar Jahre später ist dann unwahrscheinlich viel Verständnis und Wissen da. Geschwister von schlaganfallbetroffenen Kindern werden schnell erwachsen. Ich kenne viele, die mit zwölf sehr reif wirken, weil sie eine Menge selbstständig machen müssen. Im Jugendalter formulieren Kinder auch schon einmal, dass sie sauer sind, weil das betroffene Geschwisterkind mehr Zuwendung von den Eltern erhält.

  • Leidet das betroffene Kind doppelt, weil es merkt, wie es die Familie beeinflusst?

Je nach Schwere der Beeinträchtigung kann das Kind gar nicht so reflektiert denken. Ich glaube aber, dass betroffene Kinder ihre Familie noch mehr lieben. Es scheint, als seien sie unbewusst dankbar für die Unterstützung. Schwierigkeiten entwickeln sich erst, wenn sie merken, dass sie anders sind als Gleichaltrige.

  • In welchen Lebensphasen treten diese Schwierigkeiten auf?

Kindergarten und Einschulung sind noch in Ordnung. Da ist man ein bisschen anders, aber trotzdem spielen alle mit einem. Schwierig wird es nach der dritten oder vierten Klasse. Lehrer und Pädagogen haben häufig keine Erfahrung mit schlaganfallbetroffenen Kindern und führen Leistungsabfälle auf mangelnde Motivation zurück. Sie sehen ein pädagogisches und kein hirnorganisches Problem.

  • Gibt es auch in schwierigen Zeiten Hoffnung?

Ja, der Weg ist nie zu Ende. Man sieht ihn nur oft nicht, weil zum Beispiel das Unkraut zu hoch ist. Dann muss man das Unkraut beseitigen. Eltern können mich immer anrufen – auch wenn sie keine konkrete Frage haben.

Danke für den Einblick in die Herausforderungen schlaganfallbetroffener Familien, Herr Vollers.